
Es gibt kein Patentrezept

"Die Digitalisierung von Wertschöpfungsketten sieht in jedem Unternehmen anders aus", sagt Professor Dr.-Ing. habil. Leon Urbas, Inhaber der Professur Prozessleittechnik und Leiter der Arbeitsgruppe Systemverfahrenstechnik der Technischen Universität Dresden. Ein Interview zu den Potenzialen der "Prozessindustrie 4.0"
Herr Prof. Urbas, in Deutschland ist der Begriff Industrie 4.0 in aller Munde. Welche internationalen Entwicklungen gibt es?
Urbas: Die Bezeichnung entstammt ursprünglich einem deutschen Forschungsprogramm, steht mittlerweile aber allgemein für die Digitalisierung industrieller Wertschöpfungsnetze. Die damit gemeinte Veränderung der Fertigungs- und Prozessindustrie durch Informations- und Kommunikationstechnologien zielt auf mehr Produktivität, Effizienz und Flexibilität ab. Auf EU-Ebene gibt es die Initiative „Horizon 2020“ mit dem Programm „Factories of the Future“. Im Falle des „Advanced Manufacturing 2.0“-Ansatzes in den USA sollen im Sinne einer Reindustrialisierung zudem Wertschöpfungsketten ins Land zurückgeholt werden. Und auch der aktuelle chinesische Jahresplan setzt stark auf Automatisierung.
Warum ist der Nutzen für viele Unternehmen noch nicht richtig greifbar?
Urbas: Die Digitalisierung, also die Optimierung und Innovation von Prozessen mit Informations- und Kommunikationstechnologien hat ein breites Einsatzspektrum. Entsprechend ist Industrie 4.0 kein Patentrezept, sondern ein Werkzeug, um die branchenspezifischen Potenziale zu heben. Das sieht in jedem Unternehmen anders aus und ist nicht zuletzt deshalb schwer zu greifen. In der früheren Industriegeschichte finden sich viele ähnliche Situationen. So waren etwa die etablierten Kutschenhersteller nach der Erfindung des Verbrennungsmotors überzeugt, die Automobile der Zukunft zu bauen. Erfolgreich waren aber diejenigen, die verstanden, dass Automobilbau etwas völlig anderes ist. Genauso gibt es in der Prozessindustrie gut gemanagte und hochgradig kundenorientierte Unternehmen, die sich mit kleinen systematischen Innovationen am Markt behaupten, langfristig aber nur bestehen werden, wenn sie die disruptiven Innovationen der Digitalisierung nicht verschlafen.
Ein Beispiel?
Urbas: Unser Institut erforscht aktuell die modulare Automation. Deren Nutzen hinsichtlich Produktvariabilität und Anpassungsfähigkeit ist bereits für Spezialitäten mit kleinen Margen belegt, scheint für größere Fertigungen aber noch uninteressant zu sein. Dennoch deutet vieles darauf hin, dass sich die Grundmechanismen in Kombination mit entsprechenden Informationsmodellen aus einer digitalen Anlage auch auf Worldscale-Anlagen übertragen lassen. Die Kernfrage für jedes Unternehmen ist also: Bin ich in den Märkten von morgen noch überlebensfähig, wenn diese noch volatiler sind und sich durch Individualisierung, Flexibilisierung und Vernetzung entsprechend verändert haben? In der Automobilindustrie haben diejenigen überlebt, die gelernt haben, ihre Produktvielfalt zu beherrschen.
Lässt sich das Nutzenpotenzial beziffern?
Urbas: Konkrete Zahlen gibt es leider kaum, doch das Potenzial wird an vielen Stellen offensichtlich. So müssen beispielsweise die großen Chemieunternehmen bei Umbauten aufgrund typischer Planungsund Abstimmungsfehler eineinhalb- bis zweimal bauen, bis das Ergebnis stimmt. Mithilfe einer digitalen Anlage dürfte sich der Aufwand um rund 25 Prozent verringern. Einige Konzerne arbeiten bereits mit Hochdruck an der Umsetzung.
Worin sehen Sie die größten Hürden?
Urbas: Insbesondere kleine und mittelständischeUnternehmen haben nicht die entsprechende Workforce, die Automatisierungs- und Informationstechnologie gleichermaßen versteht und auch verbinden kann. Außerdem gilt es, mit der Komplexität der neuen Wirkmechanismen zurechtzukommen. Eine unserer Aufgaben als Bildungsinstitut besteht darin, kreative Köpfe für die Digitalisierung auszubilden. Dank der immer kostengünstigeren Informationsund Kommunikationstechnologien haben wir dazu ganz neue Möglichkeiten. Letztendlich sehe ich die größte Hürde aber darin, die Unternehmen zu befähigen, der raschen technologischen Entwicklung nicht nur zu folgen, sondern diese proaktiv zu gestalten. Organisationen, die sich ausschließlich auf die Weiterentwicklung ihrer Produkte und Dienstleistungen konzentrieren, werden diese zwangsläufig verpassen.
Wie kommt die Digitalisierung besser voran: mit systematischen Arbeitskreisen oder experimentell?
Urbas: Der Vorteil von vielen Arbeitskreisen, gerade in Deutschland, liegt in ihrer Gründlichkeit. Andere Herangehensweisen sind eher hemdsärmelig, liefern aber durch eine höhere Schlagzahl weitere wichtige Erkenntnisse. In der Grundlagenforschung wiederum lässt sich Geschwindigkeit nicht erzwingen. Idealerweise trifft und ergänzt sich alles, und am Ende hat der Recht, der damit Geld verdient.
Bei den Spezialprodukten geht der Trend zur Mega-Factory. Wie passt das zur modularen Automation?
Urbas: Wir unterscheiden bei der Digitalisierung verschiedene Ebenen. Sie reichen von der simulationsbasierten Gesamtsystemoptimierung konventioneller Anlagenverbünde bis hin zu Plug-and-Produce-Konzepten zur schnellen Realisierung einer kontinuierlich betriebenen prozessintensivierten Anlage für ein bestimmtes Produkt, das darauf vielleicht ein halbes Jahr lang produziert wird. Eine weitere Stufe stellen Industrieparks dar, wo sich modulare Wertschöpfungsketten über mehrere Standorte erstrecken. Auch hier lassen sich die Prozesse mithilfe der Digitalisierung besser aufeinander abstimmen und die Produktentwicklung beschleunigen. Offene Fragen betreffen allerdings die jeweilige Abstimmungshoheit sowie die künftige Rollenverteilung zwischen Mensch und Computer.
Welche typischen Projekte werden wir in den nächsten fünf Jahren sehen?
Urbas: Es gibt bereits Early Adopters, die neue Geschäftszweige gründen, zum Beispiel die Herstellung von Reaktormodulen für bioverfahrenstechnische Prozesse als Einheit zwischen Prozessführung und Reaktordesign. Daneben sehen wir bei großen wie kleinen Unternehmen Pilotprojekte, die sich mit den Potenzialen künftiger Automatisierungsarchitekturen, integriertem Engineering und der digitalen Anlage beschäftigen.Welche Hausaufgaben müssen Lösungspartner wie BARTEC im Zeitalter von Industrie 4.0 machen?
Urbas: Sie müssen sich mit dem disruptiven Potenzial der Informations- und Kommunikationstechnologien auseinandersetzen, zumal diese zunehmend Allgemeintechnologien werden. Darüber hinaus wird es wichtig sein, Innovationspartnerschaften mit den Anwendern einzugehen, um sie bestmöglich beim Erreichen ihrer künftigen Zielvorgaben zu unterstützen.
Bad Mergentheim
November 2015